Charakterisierung des Post-Polio-Syndroms mit Blick auf Corona-Spätfolgen

Dr. med. Peter Brauer

Fest steht: Das Post-Polio-Syndrom (PPS) ist als Spätfolge einer Infektion mit Polio-Viren mit oder ohne Erkrankung eine unheilbar schwerwiegend chronisch verlaufende Erkrankung.

Die Charakterisierung als Spätfolge ist dem überwiegend en Zeitraum ihres klinisch sichtbaren Auftretens in Abhängigkeit von der Größe des virusbedingten Vorschadens im Nervensystem sowie dem Umfang und Dauer der Struktur- und Funktionsbelastung der funktional restierenden Nervensubstanz geschuldet, die sich aus vorgeschädigten und überlebenden gesunden Nervenzellen zusammensetzt. Infolge neurologischer Ausgleichsvorgänge, der neuroplastischen Kompensation (neuronale Plastizität), setzt das Post-Polio-Syndrom in der Regel subklinisch, nach außen hin also unsichtbar ein. Das aber kann auch schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt nach Erkrankung und auch nach inapparenten Infektionsverläufen der Fall sein. In der medizinisch wissenschaftlichen Literatur sind derartige Fälle bereits für den rehabilitativen Rekonvaleszenz-Zeitraum beschrieben. Physiotherapeutische Maßnahmen mussten bis zu einem halben Jahr wegen Dekompensationserscheinungen unterbrochen werden, wobei Physiotherapie mit Leistungsanforderung gleichzusetzen ist. Es handelte sich folglich um erhebliche Leistungseinschränkungen schon in der Frühphase der Erholung, die sich, zwar existent, in ihrem Gesamtumfang diagnostisch paraklinisch quantifizierbaren Kriterien jedoch weitgehend entzogen und entziehen. Das ist übrigens ein Charakteristikum des Post-Polio-Syndroms.

Mit der primär grundlegend neurologischen Betroffenheit eröffnet sich das Feld eines kausal multifaktoriell variabel ausgeprägten Krankheitsbildes mit einer ebensolchen Symptomatik, welche fast ausschließlich nur einer anamnestischen Diagnostik zugänglich ist. Wesentliches Hemmnis einer sachgerechten Charakterisierung ist die überwiegend einseitige Ausrichtung auf den spinal motorischen Bereich. Sträflich vernachlässigt wird in diesem Zusammenhang die Hauptbeteiligung des Gehirns mit seiner überaus stark verzweigt neurologischen Verflechtung unter Erfassung so gut wie sämtlicher Körper-Funktionen und -Strukturen. Demzufolge kann auch das Folgegeschehen mit zahlreichen pathologischen Einschränkungen verbunden sein, eben dem Post-Polio-Syndrom, einem Post-Viral-Syndrom (PVS).

Die neurologisch anatomische Betroffenheit wird in der folgenden, durch medizinisch autoptische Untersuchungen gesicherten Aufstellung (z.B. BODIAN) veranschaulicht. Frühere empirisch klinische Analysen (z.B. CANESTRINI) untermauern diese Befunde.

Die folgende Aufstellung von A bis B 5 verzeichnet die nachgewiesenen, in der wissenschaftlichen Literatur benannten poliobedingten * Schädigungsorte in Rückenmark und Gehirn.

A Medulla spinalis (Rückenmark)

  • Cornu anterius (Vorderhorn)
  • Cornu posterius (Hinterhorn)
  • Cornu laterale (Seitenhorn)

B Encephalon (Gehirn)

B 1 Telencephalon (Endhirn, Großhirn)

  • Area praemotorica (Prämotorische Hirnrinde)
  • Supplementär motorischer Cortex (Supplementär motorische Hirnrinde)
  • Primär motorischer Cortex (Primär motorische Hirnrinde)
  • Primär somatosensorischer Cortex (Primär somatosensorische Hirnrinde)
  • Centrum semiovale (Weißes Marklager des Großhirns)
  • Corpus striatum / Striatum (Streifenkörper)
    (Corpus striatum / Striatum = Nucleus lentiformis + Nucleus caudatus)
  • Nucleus lentiformis (Linsenkern)
  • Nucleus caudatus (Schweifkern)
  • Putamen (Schale)
    (Putamen = schalenförmiger Kern im Endhirn/Großhirn)
    (Nucleus lentiformis = Putamen + Globus pallidus / Pallidum)
  • Globus pallidus / Pallidum (Blasse Kugel)
  • Claustrum (Vormauer)
  • Corpus amygdaloideum (Mandelkern)
  • Basalganglien (Graue Kerne des Großhirns)
    (Basalganglien: Nucleus caudatus+Nucleus lentiformis+Claustrum+Corpus amygdaloideum)

B 2 Diencephalon (Zwischenhirn)

  • Globus pallidus / Pallidum (Blasse Kugel)
  • Thalamus (Sehhügel)
  • Mediane Thalamuskerne (Mittlere Thalamuskerne)
  • Subthalamuskerne (Kerne des unteren Thalamus)
    (Subthalamuskerne = Nucleus subthalamicus + Globus pallidus)
  • Nucleus subthalamicus (Subthalamuskern)
  • Globus pallidus / Pallidum (Blasse Kugel)
  • Hypothalamus (Unterster Thalamus)
  • Nucleus paraventricularis
    (Nucleus paraventricularis = Hypothalamuskern)
  • Lemniscus medialis (Mittlere Schleife)
    (Lemniscus medialis = 2. Neuron der aufsteigenden Hinterstrangbahnen)
  • Area praeoptica (präoptisches Feld im Hypothalamus)
    (Area praeoptica = Nucleus praeopticus lateralis + Nucleus praeopticus medialis)
  • Nucleus arcuatus (Bogenkern)
    (Nucleus arcuatus = Bogenkern im Hypothalamus)
    (Zwischenhirn = Epithalamus + Thalamus + Subthalamus + Hypothalamus)

B 3 Mesencephalon (Mittelhirn)

  • Formatio reticularis (Netzformation)
    (Formatio reticularis = Neuronennetzwerk)
  • Lemniscus medialis (Mittlere Schleife)
  • Substantia nigra (Schwarzer Kern)
  • Tegmentum (Haube)
    (Tegmentum = Haube mit Hirnnervenkernen)
  • Periaquaeductales Grau
    (Periaquaeductales Grau = Ganglienzellansammlungen um den
    Verbindungskanal zwischen 3. und 4. Hirnventrikel)
    (Hirnventrikel = Hirnkammer)

B 4 Metencephalon (Hinterhirn)

  • Formatio reticularis (Netzformation)
  • Lemniscus medialis (Mittlere Schleife)
  • Nuclei nervi craniales /cerebrales (Hirnnervenkerne)
  • Locus coeruleus (Bläulicher Fleck)
  • Mediane Raphekerne (Mittlere Raphekerne)
  • Nucleus fastigii (Dachkern)
    (Nucleus fastigii = Dachkern des Kleinhirns)
  • Nucleus globosus (Kugelkern)
  • Nucleus emboliformis (Pfropfkern)
  • Nucleus dentatus (Zahnkern)
    (Nucleus fastigii + Nucleus globosus + Nucleus emboliformis + Nucleus dentatus = Tiefe Kleinhirnkerne)

B 5 Myelencephalon (Nachhirn)

  • Formatio reticularis (Netzformation)
  • Lemniscus medialis (Mittlere Schleife)
  • Nucleus tractus solitarii (Kern des Solitärbündels)
  • Nucleus originis dorsalis nervi vagi (Hinterer Vaguskern)
  • Nucleus ambiguus (Nach zwei Seiten strebender Kern)
  • Nuclei vestibulares (Vestibularkerne)

Außerdem:

C Ganglia spinalia (Spinalganglien)
Das ergibt
im Gehirn: 43 nominelle Schädigungsorte
im Rückenmark: 3 nominelle Schädigungsorte
in den Spinalganglien: 1 nominellen Schädigungsort

Aus den Funktionen der genannten neurologischen Zentren lässt sich die Symptomatik poliobedingter Störungen ohne weiteres ableiten und ermittelte PPS-Symptomatik als nicht auszuschließen verifizieren. Eine definierte kausale Lokalisation ist wegen der multilokalen neuronalen Vernetzung nicht möglich. Die Signalverarbeitung zwischen gestörten und intakten Bereichen gestattet keine Zuordnung von Fehlreaktionen. Für differenziertere Informationen einschließlich Literaturbelege verweise ich auf mein Buch „Aspekte des Post-Polio-Syndroms“.

Die vorgenannten Fakten gehören bis auf Ausnahmen auch heute noch nicht zum allgemeinen Wissensstand der praktizierenden Medizin. In den achtziger und neunziger Jahren wurde in Deutschland kaum auf diesbezüglich international bereits vorliegende einschlägige Erkenntnisse zurückgegriffen. Polio-Tertiärfolgen fielen der Ignoranz anheim. Demzufolge wurde und wird in der diagnostischen Interpretation der Polio-Folgen fälschlicherweise auf paraklinische Befunde zu Primär- und Sekundärfolgen, zumeist orthopädischer Art, Bezug genommen.

Das Post-Polio-Syndrom ist eindeutig ein Post-Viral-Syndrom, eine Verschleißerkrankung poliobedingt verminderter und vorgeschädigter neurologischer Substanz durch chronisch absolute wie relative strukturelle und funktionelle Überlastung.

Weitere dem PPS symptomatisch als verdächtige Post-Viral-Syndrome äußerst nahestehende Erkrankungen wie das Chronische Fatigue-Syndrom (CFS) und das Fibro-Myalgie-Syndrom (FMS) harren mit ihrer Symptom-Diagnose noch der endgültig definierten kausalen Zuordnung.

Den Polio-Epidemien fehlte damals im Vergleich zu heute die alles in Frage stellende mediale Aufmerksamkeit mit Blick auf neurologische Langzeitfolgen. Sie waren fixiert auf mechanistisch motorische Betrachtungsweisen. Und die in dieser Hinsicht spezifisch orientierten Mediziner waren und sind selten interessiert, über den Tellerrand hinaus zu schauen.

Welch ein Zufall, dass gerade jetzt mit der Corona-Pandemie eine Flut von faktisch belegten und mutmaßlichen Informationen die mediale Welt überschwemmt. Schon wird von lang anhaltenden und möglichen späten Folgen der Covid-Infektionen als Post-Covid-Syndrom (PCS) im Sinne eines Post-Viral-Syndroms berichtet. Zu beachten ist, die Covid-19-Erkrankung wurde nach kurzer beobachtender Anlaufzeit als Multi-Organ-Erkrankung unter Einschluss des Zentral-Nerven-Systems gesehen. Die dazu aufgeführten Symptome nähern sich mehr und mehr denen beim PPS an. Über therapeutische Möglichkeiten und Notwendigkeiten hinsichtlich Langzeitfolgen werden für das PCS zu Recht Überlegungen angestellt. Anamnestische Erhebungen werden nicht angezweifelt, sondern akzeptiert, Beweise für eine Leistungsminderung nicht gefordert, weil nicht möglich, aber faktisch plausibel. Bei der primären Aggressivität von Covid-19 sind unter Beteiligung auch direkter Organschäden symptomatisch vergleichbare, aber stärkere lebenslange Spätfolgen als beim PPS nicht auszuschließen.

Dazu erhebt sich unter Berücksichtigung neurologischer Folgen die berechtigte Frage nach dem Unterschied zum Post-Viral-Syndrom Post-Polio-Syndrom. Warum ist die anamnestische Betrachtung nicht in gleicher Weise vorzunehmen? Die Polio-Erkrankung hinterließ mit Sicherheit mannigfaltige Schäden, teils offensichtlich, teils verdeckt. Beide hatten wie beim Post-Covid-Syndrom unzweifelhaft eine Leistungsminderung zur Folge. Mit Bezug auf die bekannten neurologischen Lokalisationen sind klinisch diagnostische Interpretationen anamnestischer Angaben stets auf Zugehörigkeit zur PPS-Symptomatik zu prüfen, wobei die Ausschluss-Diagnose PPS als solche nicht ausschließbar ist. In diesem Zusammenhang sind „historische“ Befunde einer kritischen Prüfung zu unterziehen und in ihrer Interpretation einschließlich Wichtung, falls nach dem heutigen Erkenntnisstand erforderlich, zu korrigieren. Bei dem damaligen fehlerhaften Kenntnisstand zum PPS ist fast ausschließlich von Fehlinterpretationen auszugehen.

Abschließend sei vermerkt:

Das Post-Polio-Syndrom ist aus medizinischen Veröffentlichungen von erstmalig 1875, dann auch aus den Folgejahren klinisch bekannt, fristet allerdings nach den Polio-Impferfolgen ein Exotendasein zu Lasten der betroffenen Patienten, unter hauptsächlicher Mitverantwortung der Mediziner.

PEa 84/85, Polio-Initiative Europa e.V.

in gekürzter Fassung Polio-Nachrichten 1/2021, Bundesverband Poliomyelitis e.V.