Von der Pandemie zum Post-Polio-Syndrom, die Polio in der Welt 2021

Bericht vom 22. Poliotag Rheinlandpfalz 2021

Am 11. Dezember fand der Poliotag in Kooperation des Katholischen Klinikums Koblenz-Montabaur (KKM) und des Cedacrest Hospitals Abuja online statt.

Paul Neuhaus, Sprecher des LV Polio e. V. Rheinland-Pfalz und Mitglied in der Europäischen Poliounion (EPU), begrüßte die Online-Teilnehmer in Europa und Nigeria. Er erinnerte an die Einführung der Polioimpfung, die letztendlich zur fast völligen Ausrottung – außer in Afghanistan und Pakistan – geführt hat. Nigeria ist seit 2019 offiziell poliofrei. Weiterhin gibt es aber weltweit über 20 Mio. PPS-Betroffener, davon allein 1 Mio. in Nigeria. So sei es wichtig, dass die in Europa gewonnen Erkenntnisse über PPS an die restliche Welt weitergegeben werden müssen.

Der nigerianische Gesundheitsminister Dr. Osagie Emmanuel Ehanire wies in seiner Begrüßungsrede darauf hin, dass Nigeria weiterhin konsequent gegen Polio impft. PPs wird aber für lange Zeit eine Herausforderung bleiben. Das große Problem sind die bildungsfernen Bevölkerungsschichten, die nie von PPS erfahren und sich nicht entsprechend vorbeugend verhalten können. Auch die medizinische Versorgung bereitet Probleme, da es in Nigeria kein adäquates Krankenkassensystem gibt. Genauso wenig ist das Wissen um PPS unter den Ärzten vorhanden. Hier hilft die internationale Zusammenarbeit wie sie mit der Polioambulanz in Koblenz stattfindet. Ein weiteres Ziel ist die Einführung der Barrierefreiheit in öffentlichen Gebäuden in Nigeria.

Dr. Ruetz, Chefarzt der Polioambulanz am KKM, bedankte sich beim nigerianischen Gesundheitsminister für die Unterstützung des Cedarcrest Hospitals. Er wies darauf hin, dass die Corona-Pandemie vermehrt zu länderübergreifenden Online-Veranstaltungen geführt hat und dass so die internationale Zusammenarbeit gefördert wird. Trotzdem freue er sich wieder auf die Zeit, in der persönliche Begegnungen wieder möglich seien.

Der rheinland-pfälzische Gesundheitsminister Clemens Hoch betonte in seinem Grußwort, dass weiterhin eine hohe Impfquote sowohl gegen Polio wie Corona notwendig seien. Die internationale Zusammenarbeit der Poliozentren ist angesichts der vielen PPS-Betroffenen dringend notwendig. So sei ja das Poliozentrum in Nigeria das einzige in ganz Afrika.

Der Geschäftsführer Jerome Korn-Fourcade vom KKM unterstützt im Rahmen der Klinikpartnerschaft den Aufbau der Polioambulanz in Dedarcrest Hospitals in Abuja. Er dankte auch dem Rotary-Club für die finanzielle Unterstützung.

Dr. Ruetz zeigte zunächst die Ursachen für das Entstehen des Post-Polio-Syndroms auf und grenzte dieses gegen die Spätfolgen von Polio wie Skoliose oder der Gefahr von Osteoporose ab. Eindringlich wies er darauf hin, dass sich Poliopatienten nicht überfordern dürfen. Das spielt auch bei der Diagnostik von PPS eine wichtige Rolle. So dürfen deshalb nicht zu viele Tests an einem Tag gemacht werden. In Zusammenarbeit mit vielen medizinischen Fachrichtungen wird in der Polioambulanz Koblenz seit 2009 der Poliopatient auf PPS, Spätfolgen oder andere medizinisch bedingte Ursachen untersucht. Inzwischen behandelt die Ambulanz jährlich bis zu 600 Patienten aus dem In- und Ausland stationär und ambulant. Dabei werden die Untersuchungen in 4 Module eingeteilt. Unterstützt werden die Untersuchungen inzwischen von hochentwickelten Geräten. So kann man z. B. an isokinetischen Kurven den Verlauf von PPS voraussagen und dem Patienten dement-sprechende Übungen zeigen, damit er den Verlauf positiv beeinflussen kann.

Mit speziellen Atemübungen wird gerade angesichts Corona die Atemmuskulatur gestärkt. Dr. Ruetz riet allen Poliopatienten zur Corona-Impfung, weil der Virus gerade die Atemwege befällt. Überhaupt spielen bei Poliopatienten Atemprobleme eine große Rolle. So verfügt die Ambulanz auch über ein Schlaflabor.

Bevor zu einer OP z. B. bei einer starken Skoliose geraten wird, wird sorgfältig abgewogen, ob diese eine wirkliche Verbesserung bringt oder ob nicht infolge einer OP verletzte Muskeln oder die Narkose-Nachwirkungen noch schädlicher sind.

Bei Hüft-, Schulter- oder Kniegelenksersatz ist eine besonders sorgfältige prä- und postoperative Planung notwendig. Bevorzugt wird eine minimalinvasive Technik um Verletzungen von Muskeln zu vermeiden. Wegen der bei Poliopatienten häufig auftretenden Osteoporose soll ein Liegen im Bett oder Gipsverbände vermieden werden. Eine Frühmobilisierung verhindert einen weiteren Knochensubstanzabbau. Bei eventuellen notwendiger Orthesenversorgung ist darauf zu achten, dass möglichste welche mit beweglichen Gelenken eingesetzt werden. Interessant ist seit neuem die sogenannte Hybridversorgung: So lässt sich bei einer Beinschiene das Oberteil abnehmen, wenn der Patient eine Strecke auch nur mit der Unterschenkelorthese bewältigen kann.

Bei Schmerzen unterscheiden die Experten den Biomechanischen Schmerz (z.B. Rückenschmerzen bedingt durch eine Lähmungsskoliose) vom Überlastungsschmerz und vom Muskelschmerz. Wichtig ist bei der Medikation nur die halbe Dosis zu verabreichen. Dabei ist die Atemfunktion engmaschig zu überwachen. L-Carnitin-Infusionen unterstützen die Mitochondrien. Auf L-Carnitin-Gabe in Tablettenform sollte wegen der Entstehung einer möglichen Arteriosklerose verzichtet werden.

Bei Rückenschmerzen aufgrund einer Lähmungsskoliose schafft ein Lendengürtel Erleichterung. Diesen kann man auch wegen einer Art Flaschenzug auch mit wenig Kraft in den Händen eng genug anlegen. Allerdings muss man den Gürtel häufig nach Positionswechsel nachjustieren.

Eine elektronische Standphasenorthesen führt den Fuß und stabilisiert das Kniegelenk und vermeidet so Schmerzen. Die c-brace-Orthese von Ottobock , die Schwung- und Standphase steuert, ist meistens zu schwer für Poliopatienten.

Zur Behandlung von Rückenschmerzen eignet sich auch die Tens-Therapie. Hierzu werden dreimal täglich für 30 Minuten am Rücken Elektroden angelegt, durch die dann ein Reizstrom fließt. Zum einen können die elektrischen Impulse die Schmerzweiterleitung an das Gehirn blockieren, wodurch die Rückenschmerzen nicht mehr wahrgenommen werden. Zum anderen werden sogenannte Endorphine freigesetzt, die den natürliche Schmerzkontrollmechanismus unseres Körpers unterstützen.

In Zeiten von Covid ist es manchmal nicht möglich bei einem Physiotherapeuten Krankengymnastik zu machen. Deswegen hat die Polioambulanz und der BV ein Video auf ihrer Homepage mit Übungen zu Stärkung der kleinen Rückenmuskeln und der Atmung gestellt.

Die Polio-Ambulanz KKM arbeitet weiterhin mit Selbsthilfegruppen und Orthopädietechniker zusammen und organisiert Fortbildungen für Ärzte und Physiotherapeuten, wie z. B. die jährlichen Poliotage. Für deren Teilnahme erhalten diese Fortbildungspunkte.

Zum Abschluss des umfangreichen Programms zeigte Dr. Felix Ogedegbe vom Cedarcrest Hospitals einen Film über die Probleme, die Poliobetroffene in Nigeria haben. Es gibt zu wenige Rollstühle, Orthesen, eingeschränkter Teilhabe am öffentlichen Leben infolge geringer Barrierefreiheit. Ein großes Problem ergibt sich dadurch für betroffene Kinder, denen ein Schulbesuch dadurch unmöglich ist. Da die nigerianische Polioambulanz sich in einem Privatkrankenhaus befindet und somit die Behandlung selbst bezahlt werden muss, stehen 300 Patienten auf der Warteliste. Das Hospital bemüht sich um finanzielle Hilfen durch den Rotary-Club, sodass z. B. Orthesen bezahlt werden können.

In der sich zum Schluss anschließenden Fragenrunde ging es um die weiteren Entwicklungen in Nigeria, wo es keine wirkliche Krankenversicherung gibt. So konzentriert sich die dortige Polio-ambulanz auf günstige Behandlungsmöglichkeiten, da OPs zu teuer sind. Es wurde zudem ein Mentorensystem über eine Internetplattform angedacht um Netzwerke im Sinne von Selbsthilfe zu bilden.

Als wichtig fand man im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit auch die Aufarbeitung der Daten in den Ambulanzen durch Prof. Dr. Nollet/Amsterdam, Experte für Rehabilitationsmedizin. Dr. Ruetz ist z. B. überzeugt, dass aufgrund der Eigenart des Poliovirus alle Polioerkrankten früher oder später eine mehr oder weniger ausgeprägtes PPS-Syndrom entwickeln. Bisher ist man von 70 % der an Polio Erkrankten ausgegangen.

Daniel Koller vom Vorstand des BV Polio e.V. dankte allen, die diesen Online-Poliotag ermöglicht und gestaltet haben und verabschiedete die Teilnehmer mit dem Slogan „Gemeinsam sind wir stark“.